„Spiegel online“ mit neuem „Echtzeit-Ticker“

20130528-095157.jpgDie neueste Errungenschaft von „Spiegel online“ kann man ganz verschieden interpretieren. Fakt ist jedenfalls: Seit kurzem gibt es als neue Darreichungsform einen „Echtzeit-Ticker“, in dem laut Spiegel online „im Minutentakt Nachrichten, Tweets und Fundstücke aus dem Internet“ veröffentlich werden.

Interpretation 1: Das ist nichts anderes als das, was Journalisten seit Jahrzehnten als stetigen Nachrichtenstrom der Agenturen kennen. Seit den 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts sitzen Redakteure bei Zeitungen und im Rundfunk vor Computern, auf denen ständig die neuesten Meldungen einlaufen. Doch damit beginnt der Job des Redakteurs erst: Er muß auswählen, gewichten, filtern. Mutet hier also der Spiegel seinen geneigten Lesern einen ungefilterten Nachrichtenstrom zu, um Arbeitskräfte zu sparen?

Das wohl nicht, denn im Header der Seite sind nicht weniger als 4 Mitarbeiter genannt, die für den „Echtzeit-Ticker“ schreiben. Das Ergebnis ist dennoch relativ wirr: Von einem abgestürzten Militär-Jet im Pazifik über einen sehr alten Japaner und einen Fehlalarm am Dresdner Hauptbahnhof (journalistisch gesehen eigentlich eine so genannte „Nicht-Meldung“…) liefert der Echtzeit-Ticker ein wüstes Sammelsurium, mit dem man erstmal nicht so richtig etwas anzufangen weiß.

Interpretation 2: Das sieht doch genauso aus wie die Chronik bei Facebook oder die Timeline bei Twitter. Auch dort findet sich ja typischerweise Relevantes neben wirrem Zeug. Versucht hier also jemand, die Anmutung sozialer Netzwerke nachzuahmen? Oder gar, das ganze System von den Füßen auf den Kopf zu stellen? Denn normalerweise ist es ja so, dass Nachrichten-Schnipsel der etablierten Plattformen irgendwann – meist sehr rasch – ihren Weg in die Netzwerke finden. Das Ganze nun umzukehren, indem man „Funstücke“ aus den Social Networks wiederum auf einer klassischen Massenmedien-Plattform veröffentlicht, macht nicht unbedingt Sinn.

Interpretation 3: Ist der Echtzeit-Ticker vielleicht eines der spannendsten journalistischen Experimente der letzten Zeit? Schließlich könnte man wohlmeinend vermuten, hier solle der Versuch unternommen werden, zum  Einen die Welt in ihrer Komplexität und Schnellebigkeit 1:1 abzubilden, und gleichzeitig dem „Echtzeit-Medium“ Internet endlich mal so richtig gerecht zu werden. Ja, da könnte schon was dran sein. Vielleicht darf man über den konkreten Inhalt des Tickers nicht zu hart urteilen, das Ganze (inklusive seiner Mitarbeiter) ist ja schließlich noch neu und muß sich erst finden. Spannend wäre es aus meiner Sicht jedenfalls durchaus, einen schnellen, wenig bis nicht gefilterten Ticker (der allerdings journalistisch schon noch ein wenig durchdachter sein dürfte und der mehr „Netz-Fundstücke“ bringen müßte) sinnvoll zu kombinieren mit dem Rest einer Nachrichten-Site, die dann die Aufgabe hätte, das wirklich Wichtige über die Zeit zu bewahren, die Geschichten stringent weiterzuentwickeln, sie einzuordnen und zu interpretieren.

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